Was ist systemische Therapie?

Entwicklung der Systemischen Therapie

„Systemische Therapie“ ist in den deutschsprachigen Ländern erst seit den achtziger Jahren zu einem festen Begriff geworden, sie ist aus verschiedenen Entwicklungen der Familientherapie hervorgegangen.

In den ersten Jahren stand ein – oft recht normatives – Verständnis von Familien als regelgeleitete Systeme im Vordergrund. Psychotherapie wurde dementsprechend als Methode angesehen, „destruktive“ oder „dysfunktionale“ Familienregeln zu ändern bzw. durch Aufgaben und Verschreibungen das Verhalten von Familienmitgliedern direkt zu beeinflussen. Dabei wurde die Anwesenheit der ganzen Familie immer als notwendig angesehen.

Beziehungsphilosophie

Heute werden Beziehungen als autonome Systeme betrachtet, die nicht durch Interventionen von außen bestimmbar sind. Menschen erzeugen von Beginn an in ständiger Interaktion mit ihrer sozialen und materiellen Umwelt die Wirklichkeiten, in denen sie leben. Ihre Erfahrungen, Wahrnehmungen und Emotionen verbinden sich zu einer einzigartigen Geschichte, aus der sich auf jeweils unterschiedliche Weise Sinn und Bedeutungen ihres Lebens ergeben.
Systemische Therapie bezieht sich daher nicht mehr nur auf die Familie, sondern ebenso auf Einzelne oder Gruppen. Damit verknüpft sich ein Menschenbild, in dem Menschen als selbstverantwortlich Handelnde wahrgenommen werden. Im therapeutischen Kontext gestalten Therapeut und Klient den Prozeß gleichermaßen. Anliegen und Erwartungen beider (evtl. unter Einbeziehung Dritter – etwa überweisende Instanzen) werden offen thematisiert und ausgehandelt. Damit liegt ein besonderer Akzent auf der Beziehungsgestaltung durch den Therapeuten und seiner Orientierung an den Anliegen der Klienten. Systemische Therapie läßt sich in diesem Zusammenhang als öffnender Dialog beschreiben, der zu einer veränderten Beschreibung individueller und sozialer Wirklichkeiten führen kann, die neue Wahrnehmungs- Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Therapeutische Veränderungen können daher sowohl über die Veränderungen von Sichtweisen (Konstrukten) erreicht werden, welche Verhaltensänderungen nach sich ziehen, als auch über Anregung von Verhaltensänderungen, die wiederum zu einer Veränderung vorher bestehender Konstrukte führen können.

Vorgehensweise

Mit dieser Orientierung ist auch verbunden, daß systemische Therapie auf starre zeitliche Vorgaben für die Dauer einer Therapie verzichtet. Die Dauer der Therapie und die Frequenz der Sitzungen ergeben sich ebenfalls aus dem Aushandlungsprozess zwischen Therapeut und Klient, auch wenn systemische Therapie mit ihrer aktiv gestaltenden und lösungsorientierten Perspektive im Vergleich zu anderen Therapieformen sicher auf eine weitaus geringere Sitzungszahl orientiert ist.

Im Kontext der Systemischen Therapie ist eine Vielzahl von Techniken entwickelt worden, die allmählich auch Eingang in andere Psychotherapieverfahren finden und gefunden haben. Einen besonderen Stellenwert haben dabei Fragetechniken wie das zirkuläre Fragen.

Durch die Einführung unterschiedlicher Beobachterperspektiven und indirektes Fragen werden die Befragten dazu eingeladen, sich in ihre Kommunikationspartner hineinzudenken und zu -fühlen, und die Tendenz zu Anklagen und Beschuldigungen verringert. Gleichzeitig wird auch die Loyalität gegenüber anwesenden oder abwesenden Beziehungspersonen respektiert, die bei direkten Fragen häufig zu Schweigen oder ausweichendem Verhalten führt. Zirkuläres Fragen realisiert damit ein Grundprinzip systemischen Denkens: über das Einbeziehen einer Außenperspektive wird deutlich, daß die „Wirklichkeit“ eines Konflikts oder Symptoms eine gemeinsam erzeugte ist und daß es unterschiedliche Sichtweisen über die Bedeutung eines Problems und deren Lösung gibt.

Weitere wichtige Techniken sind die positive Konnotation und das Reframing. Beide Techniken zielen auf die Auflösung bzw. Lockerung festgelegter Denk- und Argumentationsmuster und damit verbundener impliziter Wertungen, indem sie als negativ oder defizitär beschriebene Befindlichkeiten, Eigenschaften, Verhaltensmuster umdeuten.

Diese Techniken dürfen nicht als bloß oberflächliches „Schönreden“ verstanden werden. Sie basieren auf der Anerkennung des Leiden der Klienten und erfordern eine genaue Einschätzung ihrer Ressourcen und Defizite (sonst könnten sich die Klienten nicht ernst genommen fühlen), wollen aber die Verstärkung einer Opferhaltung vermeiden. Entscheidend ist die im Kontakt zum Klienten angemessene, für diesen anschlußfähige und daher jeweils ganz individuelle Verstörung bisheriger Sichtweisen.

Rituale können für die Markierung von Veränderungen oder die Verabschiedung alter Muster, Problemaspekte o.ä. genutzt und verschrieben werden. Als Symbolisierungen und Verdichtungen von Handlungsabläufen haben sie eine orientierende und strukturierende Kraft, die neue Sinnbildungen unterstützen kann. Wichtig ist auch hier ihre Anschlußfähigkeit an das Erleben und Handeln der Klienten und deren bisherigen Umgang mit ritualisierten Verhaltensformen.

Im Genogramm werden Familiendaten und Familienstruktur – in der Regel über drei Generationen –überschaubar dargestellt. Neben dieser informativen Funktion für die Hypothesenbildung des Therapeuten ist die Erarbeitung des Genogramms mit dem/den Klienten eine Chance, den historisch gewachsenen Familienkontext neu zu sehen und zu gewichten.

Ein anderer Zugang zur (Re-)Konstruktion von Beziehungskonstellationen stellt die Technik der Beziehungsskulptur dar, bei der unter Mitwirkung mehrerer Personen eine Familie oder ein anderes Beziehungssystem, so wie es von einem Protagonisten zum jetzigen oder einem früheren Zeitpunkt gesehen wird oder wurde, im Raum aufgestellt wird. Diese Technik gibt bildhaft Aufschluß über Nähe-Distanz-Regulation oder Subsystembildungen wie Machtverhältnisse im System aus der Sicht des Protagonisten, die in der Regel so nicht verbal artikuliert werden könnten.

Die Methode der sog. Familienaufstellungen nach Bert Hellinger wird zwar auch von ihren Anhängern gelegentlich als systemisch bezeichnet, widerspricht aber in ihrer normativen und objektivistischen Annahme einer „Grundordnung“ menschlicher Beziehungen zentral dem hier vorgestellten systemischen Denken.